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Niedrigzins und die angebliche “Enteignung der Sparer”

Mit der Ersparnis verschiebt man (potenziellen) Konsum in die Zukunft. Dabei wird der Zins als eine Art “Prämie” für den heutigen Verzicht verstanden, die den Anspruch des Sparers auf einen Teil des zukünftigen BIP vergrößert. In einer geschlossenen Volkswirtschaft, aber auch in der aggregierten Betrachtung mehrerer Volkswirtschaften, entspricht die Ersparnis den Investitionen. Diese erhöhen den Kapitalstock und sorgen – neben anderen Determinanten – für das Anwachsen des BIP, aus dem heraus die Zinsansprüche des Sparers dann befriedigt werden können. Anders ausgedrückt: die Sparer haben Anspruch auf den durch ihre Ersparnis erzeugten Mehrwert!

Nun ist jedoch jegliche Erzeugung eines Mehrwertes unsicher. Es sind Unternehmen bzw. Unternehmer, die entsprechende Investitionsrisiken auf sich nehmen. Mal sind Projekte hochrentabel, mal sind die Rückflüsse aus der Investition gering, und manchmal sogar negativ, wenn Projekte scheitern. Ein Teil des BIP-Zuwachses, nämlich unternehmerischer Gewinn (Profit) kann man als Entlohnung für die Übernahme unternehmerischer Risiken, als eine Art Risikoprämie verstehen. Diese wird u.a. an diejenigen Vermögensbesitzer ausgeschüttet (z.B. in Form von unsicheren Dividenden), die bereit waren, entsprechende Risiken einzugehen, als sie die Wahl hatten, in welcher Form sie ihre Ersparnisse halten wollen (z.B. Aktien versus Schuldverschreibungen oder Bankeinlagen).

Ein anderer Teil des geschaffenen Mehrwertes geht aber nicht auf das Konto der Vergrößerung des Kapitalstocks, sondern ist dem technischen Fortschritt zuzuschreiben (der wiederum durch risikobehaftete unternehmerische Tätigkeit und Investitionen in Forschung und Entwicklung zustande kommt). Dieser erhöht die Arbeitsproduktivität. Dadurch wird ein Teil des Mehrwertes per grenzproduktivitäts-orientierter Entlohnung an den Faktor Arbeit verteilt. Wer durch seine Arbeit pro Stunde mehr erzeugt, hat eben auch einen Anspruch auf Teilhabe daran. Auf wettbewerblichen Märkten würde sich jedenfalls die gestiegene Arbeitsproduktivität in höheren Reallöhnen niederschlagen.

Nur derjenige Teil des unter Risiko erzeugten realen Mehrwertes, der dann übrig bleibt, kann überhaupt nur an diejenigen ängstlichen Sparer verteilt werden, die ihr Vermögen in Form von Kontrakten halten, die mit festen Zinsansprüchen versehen sind. Dass so etwas überhaupt möglich ist, feste Zinsansprüche zu vereinbaren, ohne Bereitschaft nennenswerte Risiken auf sich nehmen zu müssen, oder in der Lage sein müssen, eine unternehmerische Entscheidung zu treffen, ist schon ein großes Zugeständnis, ein soziales Konstrukt, auf das Sparer keineswegs wie auf eine Art “Naturrecht” pochen können. Und darüber hinaus besteht noch der Anspruch, dass diese Anlage bitteschön auch noch hochliquide sein soll. Das Beharren auf positive Zinssätze und die Empörung über eine “Enteignung”, wenn in einer stagnierenden und mit Unsicherheiten kämpfenden Wirtschaft der Anspruch auf einen risikolosen Zins auf Null fällt, ist eine Anmaßung und sollte ebenfalls Empörung hervorrufen.

Nun mögen einige einwenden, dass es ja auch Schuldner gibt, die das geliehene Geld nicht für Investitionen, sondern für Konsum verwenden und somit gar keinen “Mehrwert” erzeugen. In diesem Fall muss dann eben der Schuldner später einen Konsumverzicht üben um Schuld plus Zinsen zurückzahlen zu können, oder er geht pleite und der Gläubiger muss dann einsehen, dass das feste Zinsversprechen doch nicht ganz risikolos war und er bei der Kreditvergabe nachlässig war. Jedoch rede ich hier gar nicht über Zinsen für Gläubiger, sondern über Zinsen für Sparer, sowie den makroökonomischen Zusammenhängen von Ersparnis, Investition und gesamtwirtschaftlichem Einkommen.

Warum aber ist der Zins so niedrig? Die Rolle der Zentralbanken wird dabei üblicherweise dramatisch überschätzt. Es besteht selbst bei ökonomisch Gebildeten oft die Vorstellung, dass der Zins durch die Zentralbank “gesteuert” werde. Deren Einfluss auf das Zinsniveau ist nicht abzustreiten, von “Steuerung” kann aber (wie auch schon bei der “Steuerung” der Geldmenge) nicht die Rede sein. Ein Zinsanspruch besteht pro Vermögenseinheit, also z.B. für das Halten eines bestimmten Wertpapiers. Ansprüche auf einen Zins können also nur befriedigt werden, wenn der oben beschriebene Teil des erzeugten Mehrwertes – und allzu groß ist dieser in stagnierenden Volkswirtschaften nicht – auf die festverzinslichen Vermögensgegenstände (Assets) verteilt werden. Nun ist aber in den letzten Jahrzehnten der Finanzsektor, gemessen an der Zahl der Mitarbeiter, der Umsätze, Gewinne, aber eben auch gemessen an der Zahl des Assets enorm gewachsen. Getrieben auch durch den Bedarf an sicheren Anlagen für Liquidität sowie (u.a.) durch neue Instrumente des Hedgings wurden immer mehr Formen von Wertpapieren kreiert. Das Halten von Portfolios solcher Wertpapiere wird teilweise aber wiederum durch festverzinsliche Kontrakte finanziert, die ihrerseits wiederum an Märkten gehandelt werden können usw. Das alles ist nicht per se schlecht, kann im Gegenteil die Effizienz der Allokation von Kapital möglicherweise erhöhen. Manche Ökonomen sehen darin jedoch eine (Over-) Financialization – eine überbordende Entwicklung des Finanzsektors weit über die Entwicklung des realen Sektors hinaus, für den der Finanzsektor doch eigentlich nur Intermediärsfunktionen hat. Schon die Umlenkung wichtiger Ressourcen wie z.B. Humankapital in den Finanzsektor und die zunehmende Attraktivität der Investition in Finanzprodukte statt in realer Kapitalgüter könnte mit zu der sog. “säkularen Stagnation” der Realwirtschaft beigetragen haben. Für unsere Argumentation wichtiger jedoch ist es, dass allein die steigende Zahl der festverzinslichen Assets es geradezu erzwingt, dass der pro Asset zu verteilende Mehrwert kleiner werden muss. Das hat mit der Zentralbankpolitik zunächst gar nichts zu tun. Auch wenn am Ende die Ersparnis den Investitionen entspricht, aber der steigende Aufwand bei der Intermediation den auf den “kleinen Sparer” zu verteilenden Mehrwert verringert, müssen die Ansprüche folglich reduziert werden. Man könnte es auch so ausdrücken: mit den geringen Zinsen “finanziert” der Sparer den Overhead des Finanzsystems durch dessen Produktion von Schuldtiteln. Es ist der Preis für eine inzwischen vielleicht schon überbordende Intermediation, die mit entsprechender Verschuldung einhergeht.

Man mag einwenden, dass in einer wettbewerblichen Welt Intermediation nur dann stattfindet, wenn sie selbst einen Mehrwert, hier: eine Verbesserung der Kapitalallokation, herbeiführt, und ansonsten gar nicht stattfinden würde. Das ist theoretisch wie empirisch fragwürdig. Der drastische Rückgang der Wohnungsmaklertätigkeit (auch eine Form der Intermediation) nach Einführung des Bestellerprinzips zeigt, dass vorher sehr wohl Intermediation auf Märkten durchgeführt wurde, wo sie offenbar gar nicht nötig war.

Was passiert, wenn man nun höhere Zinsansprüche an das BIP in einer eher stagnierenden Wirtschaft “durchsetzen” würde, wie das so einige deutsche Politiker gerne bei der EZB tun würden? Wie oben ausgeführt, müssen ceteris paribus entweder die Löhne hinter der Preis- und Produktivitätsentwicklung zurückfallen (also zulasten des Faktors Arbeit), oder aber der als Risikoprämie verstandene Teil des Mehrwertes für die Übernahme unternehmerischer Risiken muss eingeschränkt werden. Das wäre dann eine Umverteilung des Mehrwertes zulasten derjenigen Vermögenshalter, die bereit waren einen Teil des unternehmerischen Risikos zu übernehmen zugunsten der ängstlichen Sprücheklopfer, die über ihre “Enteignung” lamentieren. Ein Zurückdrängen einer finanzmarktgetriebenen Nachfrage (und damit Produktion) von Schuldkontrakten wird es wohl kaum geben, denn zum einen wird niemand normativ sagen können, welches der “richtige” Verschuldungslevel ist, und zum anderen würde dies auch die realwirtschaftliche getrieben Nachfrage nach Finanzierung durch Schuldkontrakte dämpfen und damit die Finanzierung eben jener Investitionen erschweren, deren Mehrwert man ja verteilen möchte.

Immerhin, einen Weg gäbe es noch: man löst die Zinsansprüche gar nicht ein, sondern perpetuiert sie. Man begibt sich auf den Weg einer Ponzi-Finanzierung, die aber niemand als solche erkennt. Das führt auf Dauer zu Blasen. Deren Platzen, also die Vernichtung von Ansprüchen, ist dann auch eine Art der “Enteignung”, die aber zwingend notwendig wird, weil der notwendige Mehrwert zur Befriedigung dieser Ansprüche gar nicht erzeugt werden kann. Vermutlich wird man dann aber ebenfalls Herrn Draghi die Schuld dafür geben.

Gewiss, bei Nullzins gibt es Probleme mit der Altersvorsorge und dergleichen mehr. Die RentnerInnen möchten schließlich ihre Ansprüche nicht weiter in eine Zukunft verschieben wollen, sie brauchen die Rentenzahlung sofort, und wollen diese auch sofort in Güter und Dienstleistungen umsetzen. Aber das ist der Preis dafür, dass man ein soziales Sicherungssystem auf ein Versprechen aufbaut, dass man nur in einer wahnwitzig wachsenden Realwirtschaft einlösen kann. Und auch der Preis dafür, dass man nicht verstanden hat, dass ein sicherer positiver Zinssatz keine Selbstverständlichkeit ist, sondern mühsam und riskant erwirtschaftet werden muss und dies eben nicht immer möglich ist.