Plagiate und ihre Konsequenzen – Augenmaß ist gefragt

Zum Beitrag von Theodor Ebert in der F.A.Z. vom 19.04.2015, einer recht positiven Besprechung der Publikation „False Feathers“ von D. Weber-Wulff (2014), welche für ein hartes Vorgehen von Universitäten, einschließlich ihrer Bibliotheken, gegen Plagiate plädiert.

In der öffentlichen Debatte wird Plagiat meist mit „Abschreiben“ oder „Abkupfern“ identifiziert, bei dem ein Autor das „geistige Eigentum“ eines anderen „stiehlt“ und somit die wissenschaftliche Öffentlichkeit und Prüfungsgremien betrügt. Es ist ohne Frage verwerflich, wenn jemand geistige Leistungen eines anderen als seine eigenen ausgibt und sich dadurch Vorteile verschafft, und dies muss auch ernste Konsequenzen für den Betreffenden haben. Ein „Copy and Paste“ von Textstellen, die mit ein paar ein- und überleitenden Sätzen versehen, zu einem „eigenen“ Text zusammengesetzt werden, und den Leser über die entnommenen Gedanken und Formulierungen im Unklaren zu lassen, ist ein Vergehen. Da besteht breiter Konsens, dem auch ich zustimme. Die Praxis der Plagiatsjägerei ist aber viel komplizierter. Das plakative Sprechen von „Betrug“ und „Diebstahl geistigen Eigentums“ übersieht dabei Probleme, dass die Berücksichtigung von Fachkontext und Rezeptionspraxis sich nicht so einfach auf mehr oder wenige algorithmische Regeln semantischer Textanalyse herunterbrechen lassen.

Es wird komplizierter, wenn man in die Details geht: simples Abschreiben oder auch Formulierungen sehr nahe am Originaltext, jedoch ohne Quellenangabe, kommt zwar vor, aber eher selten. Das wäre ein klares Plagiat. Schwieriger wird es, wenn ähnliche Formulierungen verwendet werden, der Originaltext durchaus z.B. mit „(vgl. Ginkelhuber (2001), S.145)“ zitiert wird, jedoch nicht bei jedem Satz oder Absatz. In prominenten Plagiatsfälle wie z.B. bei Annette Schavan, wurden Plagiats-Beispiele in der Öffentlichkeit vorgeführt, bei denen mir im Prinzip klar war, dass Frau Schavan hier die Position eines bestimmten Autors oder dessen Rezeption in der Literatur referiert, die relevanten Quellen auch nennt, aber eben nicht bei jeder einzelnen Formulierung oder kurzem Absatz erneut auf die Quellen verweist, an deren Formulierungen sie (allzu) nahe dran liegt. Das ist handwerklich nicht sauber, aber man kommt als Leser kaum auf die Idee, dass Frau Schavan hier betrügerisch fremde Ideen als ihre eigenen verkaufen will – zumindest dann nicht, wenn man den Text als fachlich vorgebildeter Rezipient liest (und das ist bei mir noch nicht einmal der Fall, ich habe lediglich Erfahrung in der Rezeption sozialwissenschaftlicher Texte, bin aber kein Experte in Sozialphilosophie).

Und damit komme ich zu dem Punkt, dass die Plagiatsjägerei oft nichts mit dem Rezeptionskontext des Werkes zu tun hat, der jedoch bei der Beurteilung, ob es sich um eigenständige Erkenntnisbeiträge im Diskurs handelt, sehr wichtig ist. Was ist mit Erkenntnissen, die „Allgemeingut“ geworden sind? Muss man bei der Anwendung des Satzes von Pythagoras die altgriechische Originalquelle (möglicherweise hat Pythagoras diese Erkenntnis selbst aus babylonischen Quellen plagiiert, für seinen Beweis gibt es keine Quelle von ihm selbst) oder zumindest eine zugängliche Sekundärquelle auftun („Pythagoras, zit. nach Ginkelhuber (2001), S.145“)? Das Beispiel mag lächerlich sein, aber in vielen Fachdisziplinen wird Standardwissen sehr oft selbstverständlich benutzt, und es wird z.B. in der VWL als legitim erachtet, das IS-LM-Modell zu verwenden, ohne stets auf die Arbeiten von Hicks ud Hansen aus den 1950er Jahren zu veweisen, sobald die einschlägige Grafik erscheint, oder die Effizienzmarkt-Hypothese, ohne zum x-ten Mal Fama, Black und Scholes zu zitieren. Auch bei Formulierungen wie „In der Neoklassik ging man von individueller Nutzenmaximierung aus.“ ohne jede Textreferenz wird etwas behauptet, was zwar nicht im Einzelnen belegt wird (da es als Standard-Fachwissen vorausgesetzt wird), aber es beansprucht aus Sicht des halbwegs fachkundigen Lesers auch keine geistige Urheberschaft. Jeder weiß das, aber dummerweise wurde es bereits von Ginkelhuber (1951) schon einmal genau so formuliert, und somit ist es ein Plagiat. Hier wird es schwierig, wenn Plagiatsjäger ohne fachliche Expertise Textanalyse betreiben – und davon gibt es viele. Der fachkundige Leser wird häufig keine unangemessene Übernahme fremder Ideen oder ein Vortäuschen geistiger Eigenleistungen bemerken, weil ihm aus dem Kontext völlig klar ist, welche Textteile sich auf Bekanntes beziehen, und worin die Neuerung liegt, welchen Beitrag der Autor eigentlich zum Diskurs liefern will. Der rein formal-textanalytisch arbeitende Plagiatsjäger (bzw. Plagiats-Software) wird dagegen schon Alarm schlagen.

Noch schwieriger wird die Frage bei den Konsequenzen von Plagiaten, sprich bei der Aberkennung von Examensleistungen und Doktortiteln. Bei Examensleistungen sehen die meisten, wenn nicht alle Prüfungsordnungen Sanktionen vor, bei nicht entdeckten Plagiaten gibt es eine Verjährungsfrist. Bei Dissertationen und wissenschaftlichen Publikationen wird dies von vielen Plagiatsjägern anders beurteilt: Da Dissertationen und andere Publikationen einen Beitrag zum wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt leisten (sollen), und die Ergebnisse von anderen zitiert werden, sollten Plagiate nicht nur ggf. den Entzug des Titels nach sich ziehen, sondern auch die Dissertationen aus Bibliotheken usw. entfernt werden, so Frau Weber-Wulff (zit. nach Ebert, FAZ vom 19.4.15). Nun ist Letzteres bei plagiierenden Publikationen in Fachzeitschriften nicht ohne weiteres möglich. Man müsste Plagiate auf eine Art Index setzen und bevor ein Wissenschaftler irgendeine Quelle liest, geschweige denn diese zitiert, müsste ein Abgleich mit diesem Index erfolgen. Genau genommen müsste er auch überprüfen, ob die Aussage, die er zitieren möchte, überhaupt je Gegenstand des Plagiatsverfahrens war. Der dramatische Anstieg von Transaktionskosten würde Forschung drastisch behindern.

Hinzu kommt ein weiteres Problem: Wenn z.B. eine Dissertation erhebliche Plagiatsbefunde aufweist, bedeutet das noch lange nicht, dass nicht trotzdem auch ein erheblicher eigenständiger Erkenntnisfortschritt an anderer Stelle des Werkes geleistet wurde. Wer z.B. den Literaturstand schlampig referiert hat, d.h. textlich zu nah am Original war und oft schlecht zitiert hat, die Plagiatserkennungssoftware also völlig zu Recht Alarm schlägt, dann aber auf zwei Seiten ein bahnbrechendes Theorem aufgestellt und bewiesen hat, dessen Arbeit gilt dann als „zu 90% plagiiert“. Den eigenständigen wissenschaftlichen Erkenntniswert zu erkennen dürfte rein text-analytisch arbeitenden Plagiatsjägern schwer fallen. Dazu fehlt ihnen die Expertise und die fachliche Rezeptionspraxis: bei welchen Gedanken darf man beim Fachpublikum als allgemein bekannt voraussetzen, dass dies nicht originelle Eigenleistung des Verfassers, sondern allgemeiner Kenntnisstand der Disziplin ist? Was ist wirklich neuartig und ein Erkenntnisfortschritt? Es würde Plagiatsjäger auch zu unangenehmen Güterabwägungen zwingen – eine normativ sehr viel heiklere Angelegenheit als das Aufdecken von Copy-and-Paste-Fällen. Generell kommen Güterabwägungen in einer Debatte sehr kurz, welche durch scheinbar glasklare Gegensatzpaare geprägt ist: richtig – falsch, ehrlich – betrügerisch, eigenständig – gestohlen, verdienter Doktortitel – Rübe ab!

Ich will gar nicht für oder gegen etwas plädieren, was in solchen Fällen angemessen sei. Ich will nur zu bedenken geben, dass eine Gleichstellung des eben beschriebenen Falls etwa mit reinen Copy-and-Paste-Arbeiten – und die Medienöffentlichkeit wird mit ihren „Schande!“-Rufen keinerlei Differenzierung vornehmen, und in den sog. „sozialen“ Medien wird die berufliche und persönliche totale Demontage oft schon abgeschlossen sein, bevor der/die Betreffende davon erfährt, dass gegen seine/ihre Arbeit ermittelt wird – nicht nur unfair ist, sondern vor allem auch nicht den Zweck erfüllt, zwischen wissenschaftlichen Fortschritt und blankem „Abkupfern“ zu differenzieren, denn: so einfach ist es eben nicht. Die manchmal kritisierte Behäbigkeit, mit der Universitäten bei Plagiatsfällen vorgehen, kann man so gesehen auch als vorsichtiges und umsichtiges Agieren verstehen.

Natürlich soll jeder Wissenschaftler den wissenschaftlichen Ethos, vor allem den Respekt gegenüber geistigen Leistungen anderer ebenso verinnerlichen wie die Praxis des korrekten Zitierens. Aber für einen produktiven wissenschaftlichen Diskurs halte ich Beiträge mit originellen Ideen, selbst wenn Formulierung und Zitation kritisch sind, für viel wichtiger als plagiatsfreie Texte mit lupenreiner Zitation, die zum Literatur-Tsunami wissenschaftlicher Bedeutungsarmut beitragen, der durch die Fehlanreize des Wissenschaftsbetriebs ausgelöst wurde. Mit einem „Wer betrügt, der fliegt“ ist jedenfalls ein vernünftig begründbares Wissenschaftsethos nicht hinreichend beschrieben, um es mal milde auszudrücken. Unter einem wissenschaftlichen Diskurs stelle ich mir kein ewiges Gerichtsverfahren vor, in welchem man einen Gedanken am besten von seinem Rechtsanwalt vortragen lässt. Ich möchte schon gerne Betrüger, Poser, akademische Titelgrapscher loswerden, aber nicht originelle, kreative, exzellente Personen, die sich in ihrer Puzzlearbeit leider weniger um Zitationsregeln scheren.